Wie ein Biophysiker mit amputierten Beinen zum Architekten der nächsten menschlichen Evolution wurde
Er war ein Teenager mit Weltklasse-Ambitionen. Kletterwunderkind. Grenzgänger. Doch ein einziger Tag in den White Mountains veränderte alles: Bei einer Wintertour im Jahr 1982 gerieten Hugh Herr und sein Kletterpartner in einen Blizzard. Sie überlebten – doch Herr verlor beide Beine unterhalb des Knies durch Erfrierungen. Der damals 17-Jährige fiel aus der Welt der Bewegung, der Kontrolle, der Selbstbestimmung. Doch statt sich zurückzuziehen, stellte er eine andere Frage: Was wäre, wenn Technik nicht nur helfen, sondern den Körper verbessern könnte?
Von der Prothese zur Supergliedmaße
Herrs Weg führte ihn nicht zur Reha, sondern ins Labor. Er studierte Physik, Maschinenbau, promovierte am MIT – und entwickelte eigene Prothesen, um wieder klettern zu können. Doch aus dem persönlichen Bedürfnis wurde ein wissenschaftlicher Lebensauftrag. Am Biomechatronics Lab des MIT Media Lab entwarf er robotische Beinprothesen, die Bewegung nicht imitieren, sondern aktiv anpassen: an Geschwindigkeit, Gelände, Balance.
Sein Körper wurde zum Versuchsobjekt – und zur Schnittstelle zwischen Biologie und Technologie.
„Ich bin kein Cyborg. Ich bin eine neue Spezies Mensch.“
Hugh Herr sieht Behinderung nicht als Defizit, sondern als Ausgangspunkt für Transformation. In seinem TED Talk von 2014 – mit über 9 Millionen Views – formuliert er eine kühne Vision: Technologie als Gleichmacher, der Körper unabhängig von Schicksal, Krieg oder Genetik zu Werkzeugen der Freiheit macht.
In dieser Denkweise ist Behinderung kein Zustand – sondern ein gesellschaftliches Konstrukt. Was fehlt, sind nicht Beine, sondern Systeme: politische, wirtschaftliche, technische.
Ottobock: Deutsche Herkunft, globale Wirkung
Ein zentraler Partner in Herrs Innovationsbiografie ist das deutsche Unternehmen Ottobock, 1919 in Berlin gegründet. Ursprünglich versorgte man Kriegsversehrte mit einfachen Holzprothesen. Heute ist Ottobock Weltmarktführer in der Medizintechnik – und war eines der ersten Unternehmen, das Herrs Startup BIOM 2013 übernahm. Die Integration ermöglichte, biomechatronische Prothesen in Serie zu bringen – unter anderem mit KI-gesteuerten Gelenken und lernfähigen Gangmustern.
Ottobock selbst wandelte sich dabei von einem traditionellen Hersteller zu einem Treiber technischer Inklusion: mit Standorten in mehr als 60 Ländern, darunter ein globales Innovationszentrum in Wien.
Für eine Welt ohne Behinderung
Herrs Mission ist größer als Hightech-Design. Er setzt sich für inklusive Bildung, barrierefreie Städte und menschenzentrierte Forschung ein. Am MIT forciert er Initiativen, in denen Menschen mit Amputationen nicht als Patienten, sondern als Pionier:innen auftreten. Seine Vision ist radikal:
„Behinderung wird es in Zukunft nur noch geben, wenn wir versagen.“
Warum Hugh Herr ein Forerunner ist
Weil er persönliche Tragödie in globale Lösungskraft verwandelt hat. Weil er beweist, dass Technologie dann sinnvoll ist, wenn sie Teilhabe schafft. Und weil er der Welt zeigt: Barrierefreiheit beginnt nicht mit einer Rampe – sondern mit einer Haltung.
Quellen
- TED Talk: The new bionics that let us run, climb and dance
- MIT Media Lab – Biomechatronics Group
media.mit.edu - Ottobock Unternehmensgeschichte
ottobock.com - Interview: “We can eliminate disability”, The Guardian
- Buch: Hugh Herr – Being Human: Fully Bionic and Beyond (2021)