Wieder und wieder: „Die Waffen nieder“

Mit dem Terror-Anschlag der Hamas, dem Krieg in der Ukraine, den andauernden Kämpfen im Jemen, Syrien, der Sahelzone oder der Vertreibung der Kurden aus Bergkarabach stellt sich die Frage so brisant wie lange nicht: Wo ist die Friedensbewegung heute? Und, noch wichtiger: Wie können wir Menschen jemals Frieden finden?
Von Julia Heuberger-Denkstein
Fast 135 Jahre ist es her, als die österreichische Pazifistin Berta von Suttner ihren Anti-Kriegsroman „Die Waffen nieder“ verfasst.
Für ihren unermüdlichen Einsatz um Frauenrechte, Frieden und Abrüstung, erhielt sie als erste Österreicherin und Frau überhaupt 1905 den Friedensnobelpreis.
Rache und immer wieder Rache! Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen. Nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden.
Die Pazifistin Berta von suttner
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verstarb die wortgewaltige Kämpferin für den Frieden. In den frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts etablierte sich die Friedensbewegung in Mitteleuropa neu, um in Protestmärschen – bekannt als Ostermärsche in Deutschland, als „Schwerter zu Pflugscharen“-Bewegung in der DDR und in Österreich in Form von zahlreichen Demonstrationen und Friedenskundgebungen – vor allem gegen die Stationierung von Atomwaffen in Westeuropa aufgrund des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 zu demonstrieren.

Credit: Wikimedia Commons
Heute scheint die Friedensbewegung im Dornröschenschlaf und die Menschheit kein Stück weiter und auch kein Stück weiser zu sein. Im Gegenteil. Die Welt steht in Flammen, wie lange nicht. Klimawandel, Demontage der Demokratien, Aufrüstung und Kriege, wohin das Auge blickt. Doch wo liegt die Lösung, gibt es einen Ausweg aus dem Irrsinn, dem Töten und Wieder-Töten?
Als Mutter von zwei Kindern (zwölf und 14 Jahre alt) stehe ich vor dem Dilemma: Nachrichtenverweigerung oder Zulassen der Nachrichtenflut von Umweltzerstörung und grausamster Gewalt?
Was den eigenen Kindern zumuten, wie umgehen mit all den Traumen, hervorgerufen durch Zerstörung, Ausbeutung, Krieg und der Endlosschleife von Rache und Gegen-Rache, nicht nur im Nahen Osten?
Wie das alles einordnen, erklären oder gar mit Hoffnung gewappnet in die Zukunft blicken? Wo längst bewiesen ist, dass Gewalt in den Medien, Fernsehen und sozialen Netzwerken bei Betrachter:innen zu indirekter oder sekundärer Traumatisierung führt. Was so viel bedeutet wie: das Trauma anderer, wird zu meinem eigenen Trauma. Und davon haben wir nicht erst seit dem Hamas-Attentat vom 7. Oktober 2023 mehr als genug. Wir leben auf dieser einen Welt und können uns nicht abschotten vom Leid unserer Mitmenschen. Die Weisheit des großen indischen Freiheitskämpfers und Friedensnobelpreisträgers Mahatma Gandhi gilt nach wie vor:
Du kannst mir nicht weh tun, ohne dich selbst zu verletzen.
Mahatma Gandhi
Frieden – ist das für uns als Menschheit überhaupt möglich?
Oder sollte man – ebenfalls einer Weisheit Gandhis folgend „selbst die Veränderung sein, die man sich wünscht in der Welt“ – und bei sich, auf individueller Ebene, beginnen und fragen: Wie sieht es aus mit dem Frieden in mir?
Angesichts all der Traumen – der gegenwärtigen und der vergangenen – lohnt sich ein Blick in die Trauma-Forschung. Die bahnbrechende Arbeit und der Film „The Wisdom of Trauma“ über den aus Ungarn vor den Nazis geflüchteten, kanadischen Arzt und Therapeuten Dr. Gabor Mathé, liefern wichtige Erkenntnisse:
Das Trauma entsteht nicht nur durch die schlimmen Dinge, die mit uns passiert sind. Trauma ist auch, was in dir geschieht, als Ergebnis dieser schlimmen Erlebnisse.
Gabor Mathe
Was so viel bedeutet, dass ein Trauma nicht allein durch die (wirklich) schrecklichen Geschehnisse wie Krieg, Mord, Gewalt oder sexuellen Missbrauch verursacht wird, sondern vor allem dadurch, was mit unseren Gefühlen und Emotionen in Folge passiert:
Wir schotten uns ab von dem traumatischen Erlebnis, trennen unser Empfinden von unserer Wahrnehmung.

Dr. Gabor Mathé /Credit: Wikimedia Commons: Gabor Gastonyi – Clare Day
Mit dem Ergebnis, dass wir uns selbst nicht mehr spüren. „Wir verlieren den Zugang zu unseren Gefühlen und damit verlieren wir uns selbst,“ so Dr. Maté. Und dafür braucht es nicht einmal ein Attentat, einen verheerenden Gegenschlag, einen Angriffskrieg oder Vertreibung und Flucht. Es braucht nur Eltern, die sich so sehr von ihrem eigenen Bauchgefühl entfremdet haben, dass sie ihre Kinder in ihrem Schmerz alleine lassen.
Die Symptome von Traumatisierung sind: Angstzustände, Albträume, die Unfähigkeit zu lieben, Suchtverhalten, Schlaflosigkeit, Depression und Scham. Sowie die Tendenz, das traumatisierende Muster immer und immer wieder zu wiederholen – an uns selbst, an unseren Mitmenschen, an unseren Kindern.
Trauma vererbt sich von Generation zu Generation. Von Mutter zu Tochter und von Vater zu Sohn. So wie wir es gerade auf die schlimmste Art und Weise in Israel und Palästina erleben.
„Um ein Trauma zu heilen, muss man die Wunde sehen, die die Person antreibt“, sagt Gabor Maté.
Denn: „Unter der traumatisierten Persönlichkeit verbirgt sich das gesunde Individuum, dem in diesem Leben schlicht nie die nötigen Beziehungen gegeben wurden, um sich auszudrücken und seine authentische Menschlichkeit zu leben“. Das bedeutet, das Licht des Bewusstseins auf die vergrabenen, weggesperrten Wunden in uns selbst und in anderen zu richten. „Der neue Imperativ für die Menschheit lautet, das zu sehen, was mit uns passiert ist und nicht, was „falsch“ an uns ist“, so die Erkenntnis aus der Arbeit mit vielen tausend traumatisierten Männern und Frauen dieser Welt.
Die Frage also ist: Sind wir frei? Sind wir uns selbst bewusst?
Treffen wir unsere Entscheidungen tatsächlich auf der Grundlage unseres vollen Bewusstseins oder werden wir von einer unbewussten Dynamik angetrieben, die wir geerbt oder als Reaktion auf ein Kindheitstrauma entwickelt haben? Der ehrliche, offene und vor allem mitfühlende Blick ins eigene Innere ist der erste Schritt in Richtung Antwort und Heilung. Der zweite besteht darin, endlich zu erkennen, dass wir Menschen nicht allein, sondern nur in Beziehung mit anderen heilen und wachsen können. „Wir Menschen heilen in Gemeinschaft,“ betont Gabor Maté, „wenn ich die Auswirkungen von Trauma in mir selbst und in den Menschen rund um mich herum erkenne, dann bewirkt das eine signifikante Veränderung. Es beseitigt die gefühlte Andersartigkeit zwischen uns und bringt das echte, authentische Menschsein ins Spiel.“
Die Weisheit des Traumas also lehrt uns:
Unsere Aufgabe als Menschheit ist es, gemeinsam aus unseren Leiden zu lernen und daran zu wachsen. Gemeinsam heißt nicht einsam. Gemeinsam heißt auch mit unseren Feinden. Selbst wenn der Feind in Israel, Russland der Ukraine und im Gaza-Streifen lebt – oder auch in unserem eigenen Inneren.
Julia Heuberger- Denkstein ist Gastautorin des Forerunners.Network. Sie ist Journalistin mit Leib und Seele (u.a. profil) und hat zusätzlich ein Nachhaltigkeitsstudium abgeschlossen. (ESG, CSR, Öst.Umweltzeichen). Die Mutter zweier Töchter lebt in Salzburg.
